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Ein Rennen gegen die Zeit und die Verjährung von NS-Unrecht

Vor 65 Jahren wurde auf Initiative des Studenten der Freien Universität Reinhard Strecker die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Justizverbrechen zum öffentlichen Thema gemacht

16.04.2024

Reinhard Strecker ermittelte Richter und Staatsanwälte, die an NS-Gerichsurteilen mitwirkten.

Reinhard Strecker ermittelte Richter und Staatsanwälte, die an NS-Gerichsurteilen mitwirkten.
Bildquelle: H.J. Lind

Im Frühjahr 1959 durchforstete eine studentische Arbeitsgruppe der Freien Universität in einer Steglitzer Wohnung nationalsozialistische Gerichtsurteile und Anklagschriften. Reinhard Strecker, Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), hatte die Dokumente aus polnischen, tschechischen und DDR-Archiven erhalten. Auf seine Initiative hin bereitete der Berliner SDS eine Ausstellung vor, die unter dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz“ erstmals dokumentieren sollte, welche Richter und Staatsanwälte, die an Todesurteilen der Nazi-Justiz mitgewirkt hatten, nun als Beamte im bundesdeutschen Justizdienst unbehelligt weiter beschäftigt waren.

Mehr als 50.000 Todesurteile hatten NS-Gerichte bis 1945 gefällt, 80 Prozent der damaligen Richter und Staatsanwälte waren NSDAP-Mitglieder. Im Jahr 1959 arbeiteten noch mehr als 1000 ehemalige NS-Juristen im westdeutschen Justizdienst. Diesen skandalösen Zustand wollten Reinhard Strecker und seine Recherchegruppe durch ihre Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit bekanntmachen.

Die aus den Dokumenten ermittelten Namen von NS-Richtern und -Staatsanwälten verbreitete der SDS-Bundesvorstand in den örtlichen SDS-Gruppen – verbunden mit der Aufforderung, in Telefonbüchern nach dem aktuellen Wohnort dieser Juristen und ihrer Funktion in der westdeutschen Rechtspflege zu recherchieren. Die Zeit drängte, denn die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ sollte im Herbst 1959 eröffnet werden, da für Totschlagsdelikte die Verjährungsfrist im Mai 1960 eintreten würde. Im Auftrag des SDS-Bundesvorstands erstattete Reinhard Strecker im Vorfeld der Ausstellung deswegen Strafanzeige gegen 43 amtierende Richter und Staatsanwälte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Reinhard Strecker, Student der Freien Universität Berlin, sichtet Akten.

Reinhard Strecker, Student der Freien Universität Berlin, sichtet Akten.
Bildquelle: Privatarchiv Strecker

Proteste gegen ein Gastspiel

Bei einer Demonstration, zu der auch der Allgemeine Studenten-Ausschuss (AStA) der Freien Universität aufgerufen hatte, durchbrachen am 7. Dezember 1950 Demonstranten mehrere Polizeiketten, zertrümmerten die Glastüren zum Foyer des Theaters am Kurfürstendamm und verlangten die Absetzung des Gastspiels des Wiener Burgtheater-Ensembles mit Werner Krauss, dem Hauptdarsteller des antisemitischen Nazi-Propagandafilms „Jud Süß“ von Veit Harlan. Vier Tage später brach das Burgtheater sein Berlin-Gastspiel ab.

Der SDS beteiligte sich im folgenden Jahr an der von dem Hamburger Journalisten Erich Lüth angestoßenen Kampagne „Frieden mit Israel“, die zur Gründung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit führte. Erich Lüths Aufruf zum Boykott von Veit Harlans erstem Nachkriegs-Film „Unsterbliche Geliebte“ führte zu Protestaktionen von SDS-Gruppen in mehreren Universitätsstädten. Etliche Kinobesitzer stoppten daraufhin Aufführungen des Harlan-Films. Der studentische Konvent der Freien Universität – beschloss im Februar 1951 ein Betätigungsverbot von Vereinigungen, „die den Antisemitismus verbreiten, fördern oder billigen“ auf dem Hochschulcampus.

In Auswertung der Aktion „Frieden mit Israel“ kam eine Konferenz der SDS-Gruppenvorsitzenden im Mai 1952 zu dem Ergebnis, die Reaktionen auf die Anti-Harlan-Demonstrationen hätten gezeigt, „dass der Antisemitismus im Erstarken sei“. Insbesondere hätten sich Mitglieder schlagender Verbindungen als Unterstützer Veit Harlans hervorgetan.

Die Solidarität mit Israel gehörte seit den frühen 1950er Jahren zu den Grundanliegen der Freien Universität Berlin. Im Berliner SDS leitete Reinhard Strecker seit Mitte der 1960er Jahre einen Arbeitskreis zum Thema Nationalsozialismus. Im Berliner SDS war in den 1950er Jahren auch die Idee geboren worden, sich mit den im westdeutschen Justizdienst beschäftigten ehemaligen NS-Juristen genauer zu beschäftigen.

Reinhard Strecker (re.) führt 1961 in München einen Kronzeugen des Eichmann-Prozesses durch die Ausstellung.

Reinhard Strecker (re.) führt 1961 in München einen Kronzeugen des Eichmann-Prozesses durch die Ausstellung.
Bildquelle: Privatarchiv Strecker

Am Sitz des Bundesgerichtshofs eröffnete der Karlsruher SDS mit Reinhard Strecker am 27. November 1959 dann die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“. Nach dieser ersten Station sollte die Wanderausstellung im Henry-Ford-Bau der Freien Universität gezeigt werden. Auf Druck des Berliner Senats stellten jedoch weder die Freie- noch die Technische Universität Berlin Räume zur Verfügung.

Die Ausstellung wurde daraufhin im Februar 1960 in der Galerie Springer am Berliner Kurfürstendamm gezeigt. Die Schirmherrschaft für die Präsentation übernahmen Margherita von Brentano, damals Assistentin am Institut für Philosophie der Freien Universität, später dort Professorin und erste Vizepräsidentin der Hochschule, die Professoren der Freien Universität Ossip K. Flechtheim und Helmut Gollwitzer sowie der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Heinz Galinski.

Der Senator für Wissenschaft und Kunst, Professor Joachim Tiburtius (CDU), begründete sein Verbot der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ an den Berliner Universitäten, mit der Behauptung, es handele sich um eine von der DDR inszenierte Kampagne gegen die Bundesrepublik Deutschland. Joachim Tiburtius bezog sich dabei auf Broschüren des Ost-Berliner „Ausschusses für deutsche Einheit“, der Kriegsverbrechen namentlich 40 amtierenden westdeutschen Richtern und Staatsanwälten auf der Grundlage von Dokumenten aus mehreren europäischen Archiven anlastete. Tatsächlich hatte auch Reinhard Strecker Archivgut aus Polen, der Tschechoslowakei und der DDR erhalten und für die Ausstellung verwandt. Generalbundesanwalt Max Güde bestätigte jedoch nach Überprüfung der Ausstellungsdokumente 1960 deren Authentizität.

Bis 1961 wurde keiner verurteilt

Im Unterschied zu Polen und der Tschechoslowakei hatte die DDR Reinhard Strecker den ungehinderten Zugang zu ihren Archiven verwehrt, und bei dieser Verweigerung der dortigen Regierung blieb es: Nach einem Gespräch mit Gerhard Dengler vom Nationalrat der DDR, in dem Reinhard Strecker 1962 auf die großzügige Unterstützung durch polnische Archive hinwies, wurde von Dengler entschieden: „Strecker erhält von uns keine Übersicht über die bei uns vorhandenen Materialien.“ Bereits publizierte Namen könnten mit ihm abgestimmt werden, ein Zugang zu DDR-Archiven solle ihm aber nicht gewährt werden.

Reinhard Strecker vor dem Plakat von der von ihm initiierten Ausstellung.

Reinhard Strecker vor dem Plakat von der von ihm initiierten Ausstellung.
Bildquelle: Privatarchiv Strecker

Das Misstrauen der DDR-Instanzen basierte vor allem auf Streckers Engagement für Studentinnen und Studenten der Freien Universität, die als Fluchthelfer in DDR-Gefängnissen saßen. Vermutlich aber befürchteten die mit NS-Dokumenten befassten DDR-Staatsarchivare – sie waren überwiegend inoffizielle Staatssicherheitsleute – Reinhard Strecker könnte im DDR-Archivgut auch auf die Weiterverwendung ehemaliger NS-Funktionäre im DDR-Staatsapparat stoßen. Auch Reinhard Streckers Verhandlungspartner Gerhard Dengler hatte nämlich eine solche Vergangenheit: Sein Vater, der Forstwissenschaftler Alfred Dengler, gehörte im November 1933 zu den 900 Unterzeichnern des „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“.

Gerhard Dengler gehörte vor 1933 dem Jungstahlhelmbund an, dann der SA und seit 1937 der NSDAP. Er geriet als Wehrmachtssoldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft und trat dort dem Nationalkomitee Freies Deutschland bei. Nach seiner Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone trat er 1946 –der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei. Reinhard Strecker war 1962 nicht bekannt, welche NS-Vergangenheit der Funktionär des DDR-Nationalrats hatte, der ihm den Zugang zu DDR-Archiven verwehren ließ.

Die Wanderausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ avancierte in zehn deutschen Universitätsstädten und auch in den Niederlanden und Großbritannien zu einem Publikumsmagnet. Es ist heute unbestritten, dass diese Ausstellung die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit von Beamten im westdeutschen Staatsdienst einleitete, und es ist heute durch jüngere Forschungen bekannt, dass es nur die Spitze des Eisbergs war, die Reinhard Strecker und seine Unterstützer damals offengelegt hatten. So sorgten ehemalige Nationalsozialisten im Bundesjustizministerium für Gesetzesänderungen – etwa durch die Änderung des Beihilfeparagrafen –, die ihre im Justizdienst beschäftigten früheren Parteigenossen der Strafverfolgung entzogen.

Reinhard Strecker, 1959 Student der FU Berlin

Reinhard Strecker, 1959 Student der FU Berlin
Bildquelle: Privatarchiv Strecker

Im Jahr 1961 waren noch mehr als 1000 ehemalige NS-Juristen an der westdeutschen Rechtsprechung beteiligt – das Berliner Landgericht sprach 1968 in einem vom Bundesgerichtshof angeordneten Revisionsverfahren sogar den an Todesurteilen des NS-Volksgerichtshofs beteiligten Richter Hans-Joachim Rehse vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord frei.

Verdienste für Aufarbeitung

Der Vorwurf gegen Reinhard Strecker, er habe sich mit der Ausstellung „Ungesühnte Notiz“ von der DDR-Propaganda missbrauchen lassen, war unbegründet. Allerdings beteiligte sich Strecker, vermutlich unwissend, 1969 an einer Desinformationskampagne des DDR-Staatssicherheitsdienstes: Am 2. Oktober 1969 erschien in der Zeitschrift „konkret“ unter der Überschrift „Giftgas für die Bundeswehr“ ein reißerisch aufgemachter Artikel von Günter Wallraff, Reinhard Strecker und Manfred Gfellschild, in dem mehr als 80 Universitätsinstitute und zahlreiche Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft bezichtigt wurden, im Auftrag des Verteidigungsministeriums biologische und chemische Waffen zu entwickeln. Unter den namentlich angegriffenen Wissenschaftlern befand sich auch der Professor für Veterinärpharmakologie Helmut Kewitz der Freien Universität, einer ihrer Gründungsstudenten.

Die schrillen Töne über den „westdeutschen Militarismus“ und die Vorbereitung eines „Giftgaskrieges durch die Bundeswehr“ waren ein unmittelbarer Bestandteil einer in der DDR von Walter Ulbricht, dem Ersten Sekretär des SED-Zentralkomitees, unmittelbar inspirierten Obstruktionspolitik gegen die seit 1968 im Hintergrund stattfindenden Gespräche zwischen SPD-Politikern und der sowjetischen Führungsspitze. Reinhard Strecker hat sich später nie bei Helmut Kewitz für die Falschbehauptung in „konkret“ entschuldigt. Das schmälert jedoch nicht seine Verdienste für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit westdeutscher Justizbeamter.

Der Artikel erschien in einer gekürzten Fassung in der Tagesspiegel-Beilage der FU Berlin am 19. April 2024.

 

Von Jochen Staadt; der promovierte Germanist ist Mitarbeiter der Chronik der Freien Universität und war bis 2024 Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat an der Hochschule.